20 Jahre Deutsche Einheit – eine makroökonomische Sicht

Gastkommentar (gemeinsam mit Ulrich Blum) Financial Times Deutschland, 30.09.2010, S. 24

Die Wiedervereinigung war besonders für die alten Bundesländer ein teures Experiment. Doch die Transferzahlungen haben sich gelohnt – die gesamtdeutsche Wirtschaft ist heute stärker denn jeIn diesen Tagen erfolgt der Rückblick auf die vergangenen Jahre meist aus dem Blickwinkel der Transferzahlungen, der mehr oder weniger blühenden Landschaften, der Leistungen der Bevölkerung in Ost und West. Seltener werden die makroökonomischen Folgen der Transformation für die internationale Integration beschrieben. Diese Perspektive kann aber auch für die heutigen Ungleichgewichte wichtige Erkenntnisse vermitteln.

Mit der Einheit wurde Deutschland im Durchschnitt wirtschaftlich ärmer. Zugleich kamen die öffentlichen Haushalte unter massiven Druck. Bei einer Wirtschaftsleistung in den neuen Ländern, die bei 20% bis 25% der Produktivität des Westens lag, hätte sich dies eigentlich in einer Abwertung der DM niederschlagen müssen. Tatsächlich aber wertete die deutsche Währung zwischen 1992 und 1995 sowohl real als auch nominal gegenüber den Währungen der wichtigsten Handelspartner um etwa 10% auf. Der bisherige Leistungsbilanzüberschuss schlug in ein Defizit um, und die damit verbundenen Kapitalimporte waren auch erwünscht, um die erforderlichen Investitionen in den neuen Ländern zu stemmen. Zugleich stieg die Inflationsrate in Deutschland im Jahr 1992 auf 5,1 Prozent. Die Bundesbank erhöhte damals folgerichtig die Zinsen, um dämpfend auf Nachfrage und Inflation zu wirken. Deutlich wird der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, aber natürlich auch die einigungsbedingt erhöhte interne Absorption, an den Lohnstückkosten und den Exportrückgängen der Jahre 1992 und 1993. Erstere stiegen in Westdeutschland leicht bis Mitte der neunziger Jahre; die Ausfuhren als Anteil des Umsatzes im verarbeitenden Gewerbe betrugen Anfang der neunziger Jahre etwa 28%. Während sich der Westen mit Abflauen der nachzuholenden Nachfrage aus Ostdeutschland wieder um seine internationalen Märkte bemühte und die Lohnstückkosten wieder sanken, stand der Osten vor der Notwendigkeit noch schärfer rationalisieren zu müssen, um die anfangs doppelt so hohen Lohnstückkosten wie im Westen abzuschmelzen, um in Märkte einzudringen. Ende des Jahrzehnts war dies erreicht, heute besitzen die neuen Länder sogar einen nachhaltigen Vorteil. Dadurch stieg die Exportquote von ursprünglich nur 12% des Umsatzes auf nunmehr 30%.

Diese beispiellose ökonomische Roßkur, geldpolitisch erzwungen und begleitet, hat letztlich den Industrialisierungsgrad in Westdeutschland weit weniger zurückgehen lassen, als dies bei Handelspartnern mit gleichem ökonomischen Entwicklungsstand zu verzeichnen war. In den neuen Ländern konnten durch eine mit zweistelligen Jahresraten wachsende Industrie ab Ende der neunziger Jahre die Rückgänge im Immobiliensektor abgefangen werden: die gesamtwirtschaftliche Leistung blieb damit stabil bei gut 70% des Westniveaus, aber der interne, sektorale Umbau war erheblich. Heute liegen die Lohnstückkosten bis zu 20% unter denen des Westens obwohl die Lohnangleichung schon über 85% erreicht hat. Denn der aufbaubedingt hohe Überschuß der Binnennachfrage über das Produktionspotential von anfangs fast 100% ließ die Löhne bei den lokalen Anbietern, vor allem im Bausektor, und über Ansteckungseffekte dann auch in den handelbaren Sektoren, schnell steigen, so daß von Anfang an ein dauerhaftes Niedriglohngebiet nicht entstehen konnte.

Heute zählt die gesamtdeutsche Industrie zu den wettbewerbsfähigsten der Welt. Auch ostdeutsche Technologieunternehmen erobern inzwischen die Weltmärkte, womit das alte westdeutsche Erfolgsmodell der hohen internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu einem gesamtdeutschen geworden ist. Der Überhang der Nachfrage in den neuen Ländern über das Angebot ist auf unter 10 Prozent der Wirtschaftsleistung zurückgegangen – ein durchaus akzeptabler Wert, bedenkt man, daß der Aufbauprozeß über Jahre noch nicht abgeschlossen sein wird. Nach den massiven Anpassungen infolge des Drucks der globalen und der europäischen Integrationsprozesse auf die Transformation, die beschleunigt ablaufen mußte, liefert nun genau dieser Umbau wichtige Hinweise für die Zukunft der europäischen Integration. Denn der Erfolg erzeugt fundamentale Ungleichgewichte, ist er doch nichts anderes als das Gegenstück zu den massiven Leistungsbilanzdefiziten der Partnerländer. Zunächst zeigt sich, dass eine differenzierte nationale Währungspolitik für eine erfolgreiche Transformation bedeutsam ist. Damit sollte über eine weitere monetäre Integration Europas an dieser Stelle, gerade auch aus den Erfahrungen der gegenwärtigen Krise, mit Bedacht entschieden werden. Weiterhin können erfolgreiche Länder wie Deutschland wenig tun, diese Spannungen abzubauen – hier sind vor allem die Defizitländer gefordert. Denn tatsächlich liegt die Konsumnachfrage der Haushalte nicht so niedrig, wie oft argumentiert, und auch eine weitere Internationalisierung von Deutschlands Unternehmen, also der Export von Arbeitsplätzen, wirkt nur scheinbar: Glaubt man der modernen Theorie und dem, was empirisch gemessen wird, dann wachsen Leistungsfähigkeit und Produktivität in der Industrie mit der Internationalität des Absatzes und dann noch einmal mit der Vernetzung mit ausländischen Partnern und Betriebsstätten. Offensichtlich ergibt sich aus dieser makroökonomischen Sicht, dass unsere Partner angesichts dieser Einigungserfolge von den Aufbaustrategien etwas lernen können.

Aber auch Deutschland muß lernen; denn die Aufbaustrategie hat auch Defizite sichtbar werden lassen, zu denen vor allem das Fehlen von Unternehmenssitzen in Ostdeutschland und den damit verbundenen Funktionen, vor allem in der Industrieforschung, zählt. Sie können sich als künftige Fallstricke der Entwicklung erweisen. Der Aufbau geht also weiter, aber seine Ausrichtung muß sich genau an dieser Stelle ändern.