Die Zentralbank verliert Unabhängigkeit

Gastbeitrag in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.2015, 16

Wird die EZB zum Staatsanleihekäufer gerät sie in Abhängigkeit von den Nöten der Finanzminister. Es ist zweifelhaft, ob die EZB-Politik wirklich wirken wird.

Die Europäische Zentralbank hat beschlossen, in großem Umfang Anleihen öffentlicher Institutionen, darunter auch Staatsanleihen, aus dem Euroraum zu kaufen. Monatlich will sie für 60 Milliarden Euro Wertpapiere kaufen, bis Herbst nächsten Jahres für insgesamt mehr als eine Billion Euro. Sie begründet die Notwendigkeit dieser Maßnahme mit den Abwärtsrisiken für die Preisstabilität, denn marktbasierte mittelfristige Inflationserwartungen sind zuletzt recht deutlich gesunken, und die Inflationsrate ist schon eine ganze Zeit lang tendenziell rückläufig – zuletzt war sie sogar negativ.

Die schwache Verbraucherpreisentwicklung im Euroraum basiert auf mehreren Faktoren. Die Konjunktur verläuft nach wie vor schleppend, so dass von der Nachfrageseite her dämpfende Impulse ausgehen. Außerdem sind die Ölpreise sehr stark gefallen, was die Inflationsrate senkt. Stabilisierende Geldpolitik würde auf eine solche rückläufige Inflationsentwicklung nach dem sogenannten Taylor-Prinzip mit niedrigeren Leitzinsen reagieren, um den damit verbundenen Anstieg der Realzinsen zu kompensieren. Aufgrund der Nullzinsschranke ist dieser Weg jedoch versperrt. Somit scheint der Versuch, mit Staatsanleihekäufen die längerfristigen Zinsen zu drücken, zunächst durchaus angemessen. Theoretisch sollten die sinkenden Zinsen die private Nachfrage stimulieren und somit positive Effekte auf Produktion, Beschäftigung und Güterpreise haben.

In der Tat dürften von den Staatsanleihekäufen der EZB dämpfende Effekte auf die Umlaufsrenditen von Anleihen der Euroraumländer ausgehen. Studien für die Vereinigten Staaten untermauern die Erwartung, dass die Staatsanleihekäufe zu niedrigeren Umlaufsrenditen – also einem niedrigeren „risikolosen“ Zins – führen. Die Effekte auf die Zinsen, die private Haushalte und Unternehmen für Kredite zahlen, sind hingegen weit weniger klar. So hat in den Vereinigten Staaten nur die erste Runde quantitativer Lockerung 2008 bis 2009, bei der auch Unternehmensanleihen und hypothekenbesicherte Wertpapiere gekauft worden sind, die Kreditzinsen für Private merklich reduziert.

Bei der zweiten Runde quantitativer Lockerung 2010 bis 2011, in der nur Staatsanleihen gekauft wurden, war dieser Effekt wesentlich kleiner. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Zinsen auch eine Risikoprämie zur Kompensation der Kreditausfall- und Liquiditätsrisiken enthalten. Diese Prämie wird jedoch nur spürbar reduziert, wenn die Zentralbank die riskanten privaten Papiere kauft. Das EZB-Programm umfasst zwar grundsätzlich auch solche Papiere, aber sie haben in der weniger kapitalmarktorientierten europäischen Wirtschaft, die sich mehr mit Bankkrediten als mit Anleihen finanziert, bei weitem nicht die Bedeutung wie in Amerika.

Allerdings gibt es noch einen weiteren bedeutenden Unterschied zu den Vereinigten Staaten. Im Euroraum enthalten auch die Umlaufsrenditen einiger Staatsanleihen erhebliche Risikoprämien; die Rendite zehnjähriger Anleihen Italiens oder Spaniens liegt mehr als ein Prozentpunkt über der Rendite vergleichbarer deutscher oder französischer Papiere. Das Anleihekaufprogramm der EZB dürfte die Risikoprämien senken; tatsächlich sind am Tag der Ankündigung des Programms die Umlaufsrenditen italienischer und spanischer Titel etwas stärker gesunken als die deutscher oder französischer Titel.

Auf die Bankkreditzinsen dürfte die niedrigere Umlaufsrendite von Staatsanleihen jedoch nur einen geringen Einfluss haben, weil sie nur indirekte Effekte auf die für die Kreditzinsen maßgeblichen Grenzkosten der Kreditvergabe hat. So könnten etwa aufgrund von Substitutionseffekten die Eigen- und Fremdkapitalkosten der Banken sinken. Angesichts der seit langem sehr günstigen Refinanzierungsbedingungen für die Banken im gesamten Euroraum dürften die relativ hohen Kreditzinsen in Spanien oder Italien jedoch nicht primär auf die Refinanzierungskosten der Banken zurückzuführen sein. Auch dürfte die Zinsreagibilität der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage eher klein sein und mit Wirkungsverzögerungen einhergehen.

Zudem hat das Kaufprogramm einen hohen Preis, nämlich das Risiko, dass die Regierungen im Euroraum die sinkenden Zinsen für zusätzliche Staatsschulden ausnutzen. De facto wird das Staatsanleihekaufprogramm die staatliche Budgetrestriktion lockern; die dadurch ermöglichten zusätzlichen Staatsausgaben dürften die Konjunktur zwar anregen. Der Geldpolitik droht aber der Verlust der Kontrolle über die Preisstabilität. Zukünftig wird die Preisstabilität maßgeblich in der Hand der Finanzpolitik liegen. Ob sie mit dieser Verantwortung umgehen kann, daran lässt die jüngste Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes im Zusammenhang mit dem Investitionsprogramm der Europäischen Kommission jedoch Zweifel aufkommen.

Es ist vielmehr zu befürchten, dass die Regierungen die Tragbarkeit der öffentlichen Verschuldung nicht durch wachstumsfördernde Strukturreformen gewährleisten werden, sondern dass sie darauf setzen werden, dass die EZB für die Tragbarkeit der Schulden schon sorgen werde. Damit verliert die EZB de facto an Entscheidungsspielraum bei der Zinspolitik; denn ein Wiederaufflammen der Schuldenkrise durch steigende Zinsen wird sie nicht zulassen können – auch dann nicht, wenn die Inflationsrate wieder zu steigen beginnt und sogar über das Inflationsziel klettert. Es besteht dann für die Geldpolitik ein Zielkonflikt zwischen der Stabilisierung der Preise und der Stabilisierung der Staatsfinanzen.

Das Beispiel Japan zeigt allerdings, dass eine ultraexpansive Geldpolitik nicht zwangsläufig zu einem massiven Anstieg der Inflation führen muss. Die Ausweitung der Geldbasis durch die Zentralbank kommt dort kaum bei der umlaufenden Geldmenge an, d.h. deutliche Effekte auf das private Kreditvolumen sind nicht ersichtlich. Der geldpolitische und der finanzpolitische Abenomics-Pfeil haben eben nur eine begrenzte Reichweite. Für eine nachhaltige Entwicklung kommt es auf den „dritten Pfeil“ an, die langfristig orientierte Wachstumspolitik. Die Verantwortung für die makroökonomische Stabilität im Euroraum liegt somit nach der Ankündigung des Staatsanleiheprogramms durch die EZB mehr denn je bei den nationalen Regierungen im Euroraum.